Vom best ager im gesichtslosen Konsens-Alltags-Outfit über absolute Heilung Ultras in selbstgenähten Kostümen, dem klassischen Goth und natürlich auch vielen Kuttenträgern war in dem ehemaligen Musical Theater alles vertreten. Die Spannung war deutlich spürbar, doch vorher galt es noch Sangre De Muerdago zu bewundern. Die galizische Folk Band, in der Pablo C. Ursusson von den Black Metallern Antlers seinen Folk und Singer/Songwriter Freuden freien Lauf lässt, hat die Gabe auch auf einer großen Bühne eine intime Atmosphäre zu erzeugen. Die Instrumentalisierung geht dabei fragile Hebefiguren ein, hier treffen Konzertgitarre auf Harfe, Hurdy Gurdy auf Violine. Die ruhigen, teilweise schon dem Fado ähnlich fatalistischen Stücke fluten das Theater und fesseln die Besucher, anders ist die andächtige Stille nicht zu erklären. Lange Ansagen leiten jedes Stück ein und lassen den Auftritt als Sit In in einer Kommune durchgehen. Der Gitarrist und Sänger sitzt in der Mitte und erinnert vom Duktus her an eine Melange aus Les Claypool und einem jungen Bob Dylan.
Auch wenn das musikalische Vorprogramm fast diametral zum Hauptact erscheint, macht das auf den zweiten Blick mehr als Sinn, denn auch HEILUNG rekrutieren sich aus sehr diversen musikalischen Lagern. Insofern schließt sich auch hier ein Kreis, denn Sangre De Muerdago wirken mit ihrem teilweise spleenigen Folk, der auf die große Welle der 60er und 70er Jahre fusst, irgendwie auch wie aus der Zeit gefallen. Mehr als wohlwollend, eher anerkennend und dankbar fällt dann auch der Applaus im Auditorium aus, es scheint Sangre De Muerdago zu gefallen. Trockeneisneben, Vogelgezwitscher kündigt dann HEILUNG an und trotz dem stillen, geräuschlosen Einlauf der Musiker und diversen Darstellern scheint die Menge innerlich bereits zu eskalieren. Was sich im Verlauf des Konzertes auch noch nach außen „verkehren“ wird. Was folgt ist eine andauernde, sich stetig steigernde Immersion. Die drei Hauptprotagonisten werden zunächst von einem Kapuzenträger angekündigt, der wortlos die Bühne und auch die ersten Reihen mit Weihrauch säubert. Zusätzliche Perkussionisten, 6 Darsteller und HEILUNG lassen nach der ‚Opening Ceremony‘ das Colosseum Theater aus Essen verschwinden, was folgt ist purer Eskapismus, archaischer Satzgesang, atonale Abfahrten in längst vergessen Erdenschlunde, ätherisch und beschwörende Momente, dominiert von der Stimme und Präsenz der Sängerin Maria Franz. Die Grenzen verschwimmen und Krieger, Schwerter, Feuer, Gehörn und Knochen wirken kombiniert mit einer basischen aber beeindruckend auf den Punkt kommenden Licht Show so intensiv wie kaum ein vergleichbares, konservatives Rock Konzert. Die fast hypnotische Wirkung der Stücke ‚Alfadhirhaiti‘ und ganz besonders ‚Krigsgaldr‘ und ‚Hakkerskaldyr‘ zeigt bei den ersten Besuchern jetzt schon Wirkung und die ein oder andere Maske des Alltags fällt. Das erinnert von den Reaktionen und Metamorphosen einiger Zuschauer schon eher an die ein oder andere halluzinogene Erfahrung auf einem Rave. Erst mit ‚Othan‘ und dem alles überstrahlenden Kriegerritual ‚Norupo‘ und der Vermehlungsartigen Zeremonie ‚Traust‘ wird dem eher weiblichen Charakter des aktuellen Albums „Futhar“ gehuldigt. Das abschließende ‚Hamrer Hippyer‘ lässt mit einer kleinen Geste eines Percussion Spielers das ganze Theater durchdrehen. Was dann folgt hat eher Happening Theater und vereint den Urfaust Black Metal Fan mit dem jugendlichen Normalo, den WDR5 Hörer mit dem Larp Spieler. Ein Hexenkessel, ein Crescendo, welches hier fulminant kulminiert. Musikalisch ist das was HEILUNG hier zelebrieren, tatsächlich nicht ganz von dieser Welt. Der Auftritt taugt perfekt als religiöses Surrogat in einer schnelllebigen, oberflächlichen Zeit in der die Suche nach etwas was Bestand hat immer wichtiger wird. HEILUNG haben die Gabe ohne Interaktion mit dem Publikum von Anfang bis Ende des Auftritts eine Einheit mit dem Publikum zu bilden. Wo Ghost das Pop und Vermarktungsphänomen auf der einen Seite sind, so stehen HEILUNG für eine bedrohliche, introvertierte und abgrenzende Haltung zur modernen Konsum und Verdrängungsgesellschaft.
Dirk Zimmermann