Glauben und Grauen liegen nah beieinander
Im neuesten Streich des Regieduos Scott Beck und Bryan Woods werden zwei junge Mormonen-Schwestern Opfer eines irre gut aufspielenden Hugh Grant. HERETIC ist definitiv einer der Kinohöhepunkte des Jahres.
Scott Beck und Bryan Woods sind ein dynamisches Duo, wie man es in der Filmbranche nur selten findet. Seit ihrer Jugend sind sie ein unzertrennliches Team: Schon als Elfjährige freundeten sie sich an, entwickelten gemeinsam ihre Leidenschaft für das Geschichtenerzählen und begannen früh, Filme zu drehen. Diese Leidenschaft führte sie über die gemeinsame Studienzeit hinweg bis in die Welt des professionellen Filmemachens. Spätestens mit dem Drehbuch zu „A Quiet Place“, das sich als moderner Klassiker des Horrorgenres und unglaublich erfolgreiches Franchise etablierte, und ihrer Regiearbeit „Halloween Haunt“ haben sie sich als visionäres Duo bewiesen, das Genregrenzen regelmäßig überschreitet.
Ihr neuester Film, HERETIC, der am 26. Dezember in den deutschen Lichtspielhäusern startet, ist eine weitere Demonstration ihrer Fähigkeit, innovativ, provokativ und fesselnd zu sein. Diesmal bewegen sie sich weg vom traditionellen Horror hin zu einem intellektuellen Thriller, der religiöse Themen aufgreift und gleichzeitig den psychologischen Horror des Alltags seziert. Statt sich auf ausgetretenen Horrorpfaden zu bewegen, wagen sie diesmal ein intellektuelles und beklemmendes Experiment, das die Grenzen des Genres auslotet.
HERETIC beginnt so unscheinbar wie erschreckend vertraut mit dem Horror des Alltags: Zwei junge Mormonen-Missionarinnen, Schwester Barnes (Sophie Thatcher) und Schwester Paxton (Chloe East), ziehen von Tür zu Tür, um die frohe Botschaft ihrer „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage” zu verkünden. Wer kennt ihn nicht, den unangenehmen Moment, wenn Fremde an der Tür klingeln, um uns von ihrer Weltanschauung zu überzeugen?
Meistens sind solche Versuche ziemlich erfolglos. So auch hier, obwohl die beiden jungen Missionarinnen alles geben, reagieren die Menschen genervt, unfreundlich oder gar nicht. Kurz darauf stehen sie dann allerdings nicht nur sprichwörtlich, sondern auch buchstäblich im Regen, denn es beginnt zu schütten.
Doch dann ist er da, der vermeintliche Silberstreifen am Horizont:Als der charmante, aufgeschlossene Mr. Reed (Hugh Grant) die Tür öffnet, scheint sich ihr trister Tag zum Besseren zu wenden. Er lädt die beiden durchnässten Frauen ein, im Trockenen Zuflucht zu suchen und über ihre Glaubensinhalte zu sprechen. Reed scheint aufrichtig interessiert zu sein, kennt sich mit den Weltregionen gut aus und diskutiert begeistert mit den beiden. Ende gut, alles gut? Nicht ganz ... während die Mädchen denken, dass sie den Mann bekehren können, entpuppt sich der Hausherr alsbald als ebenso charismatisches wie bedrohliches Individuum, dessen wahre Absichten sich in beklemmender Langsamkeit offenbaren.
HERETIC entpuppt sich bald als mehr als nur ein klassischer Horrorfilm. Beck und Woods nutzen die klaustrophobische, fast kammerspielartige Szenerie, um existenzielle Fragen zu stellen: Was bedeutet Glaube in einer Welt voller Widersprüche? Wie beeinflusst religiöse Kontrolle das Leben des Einzelnen? Und wann wird aus Überzeugung eine zerstörerische Kraft? Der Kinofilm verweigert einfache Antworten und präsentiert stattdessen ein narratives Experiment, das bewusst polarisiert. Die Spannung wird nicht durch blutige Schockmomente erzeugt, sondern durch den schleichenden Aufbau einer Atmosphäre, die an Genre-Highlights wie „Funny Games“ oder „Speak No Evil“ erinnert.
Der Erfolg (oder Misserfolg) hängt hierbei natürlich vor allem von der Leistung der Besetzung ab, vor allem wenn diese, von einigen Cameos abgesehen, nur aus drei Personen besteht. Und hier kann HERETIC definitiv punkten. Sophie Thatcher („MaXXXine) und Chloe East („Die Fabelmans“) überzeugen als ungleiche Missionarinnen, die trotz ihrer Naivität mit bemerkenswerter Cleverness und Menschlichkeit agieren. Die beiden Darstellerinnen verleihen ihren Figuren eine bemerkenswerte Glaubwürdigkeit weit abseits typischer Scream-Queens im knappen Outfit, die das Genre regelmäßig beehren. Besonders beeindruckend ist, wie die beiden Hauptfiguren mit wenigen Gesten und Dialogen so menschlich und nuanciert wirken, dass man unweigerlich mit ihnen leidet. Barnes und Paxton sind keine Klischees, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Ihre Dynamik ist komplex, ihre Chemie spürbar.
Doch einer stiehlt beiden unweigerlich die Show: Hugh Grant. Der Engländer hat in seiner beeindruckenden Karriere viele Facetten seines Könnens gezeigt. Vom charmanten Rom-Com-Liebling in Klassikern wie „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ bis hin zu anspruchsvolleren Rollen wie zuletzt in der Hit-Serie „The Undoing“ hat sich Grant immer wieder neu erfunden. Und das tut er hier einmal mehr. Die Performance des englischen Megastars ist schlichtweg meisterhaft. Als Mr. Reed balanciert er gekonnt zwischen britischer Höflichkeit und abgrundtiefem Wahnsinn. Seine psychotische Faszination für religiöse Dogmen und deren Widerlegung macht ihn zu einem der faszinierendsten Antagonisten der letzten Jahre. Grant verleiht der Figur eine diabolische Eleganz, die gleichermaßen anzieht und abstößt. Man kann nicht anders, als ihm zuzuhören, auch wenn sich das Unheil wie ein Netz um seine Opfer zusammenzieht.
Erwähnenswert ist auch die Filmmusik von Chris Bacon. Mit minimalistischen, bedrohlichen Klängen unterstreicht sie die klaustrophobische Atmosphäre des Films, ohne jemals aufdringlich zu wirken.
HERETIC ist nichts für schwache Nerven – und schon gar nicht für ungeduldige Zuschauer. Dies ist kein Film, der mit billigen Schockmomenten arbeitet. Stattdessen baut er auf intensive Dialoge, psychologische Raffinesse und einen bedrohlichen Unterton, der sich wie ein dunkler Schleier über jede Szene legt. Der Film fordert, statt zu unterhalten. Und genau das macht ihn so bemerkenswert.
Letztendlich ist HERETIC ein Film, der es auch darauf anlegt, zu polarisieren. Er zieht einen in seinen Bann, inspiriert und bleibt im Gedächtnis. Beck und Woods beweisen erneut, dass sie zu den aufregendsten Stimmen des modernen Kinos gehören. Mit einem brillanten Schauspielensemble, einer durchdachten Inszenierung und einer tiefgründigen Auseinandersetzung mit relevanten Themen schaffen sie ein Werk, das weit über die Grenzen des Horrorgenres hinausgeht. Es ist eine mutige, provokative und letztlich triumphale Abrechnung mit den Schattenseiten des Glaubens. Kurzum: HERETIC ist kein Film, den man passiv konsumiert – es ist ein Film, den man erlebt. Wer hier keine Kinokarte löst, der ist selbst schuld.
Florian Tritsch
Titel: HERETIC
Land/Jahr: USA 2024
Label: PLAION PICTURES
FSK & Laufzeit: ab 16, ca. 110 Min.
Verkaufsstart: veröffentlicht