Dunkle Erntezeiten
Ein finsteres Dorf, uralte Rituale und der beklemmende Tanz zwischen Heidentum und Christentum: LORD OF MISRULE – HERR DES SCHRECKENS entfaltet einen atmosphärischen Folk-Horror, der mit großartigen Darstellern überzeugt und lange im Gedächtnis bleibt.
Die goldene Ära des Folk-Horrors begann in den siebziger Jahren mit Hits wie „Kinder des Zorns“, „Die letzte Flut“ und natürlich „The Wicker Man“, der wohl bis heute die archetypische Blaupause des Genres darstellt. In den vergangenen Jahren blieb es jedoch – mit wenigen Ausnahmen wie dem bemerkenswerten „Lamb“ – erstaunlich still um die Stilrichtung. Bis jetzt, denn LORD OF MISRULE – HERR DES SCHRECKENS belegt eindrucksvoll, dass das Genre noch lange nicht zum alten Eisen gehört.
Die Handlung beginnt in einer trügerischen Idylle: Rebecca Holland, gespielt von Tuppence Middleton, zieht als frisch ordinierte Pfarrerin in eine malerische Gemeinde im Südwesten Englands. Das Dorf wirkt, als sei es direkt einer Postkarte entsprungen – perfekt, friedlich, einladend. Rebecca und ihre Familie werden freundlich empfangen, die Bewohner scheinen herzlich und lebensfroh. Doch die ländliche Idylle trügt. Als Rebeccas Tochter Grace während der Vorbereitungen für das Erntedankfest spurlos verschwindet, offenbart sich hinter der sanften Fassade ein verstörendes Netz aus jahrhundertealten, grausamen Riten, die niemand unbeschadet übersteht …
LORD OF MISRULE – HERR DES SCHRECKENS zeigt, dass moderner Folk-Horror nicht nur das Publikum erschrecken, sondern auch tief berühren kann. Regisseur William Brent Bell, bisher eher für mittelmäßige Produktionen wie „Orphan: First Kill“ bekannt, landet hier einen unerwarteten Volltreffer.
Der Film hält sich eng an die Traditionen des Folk-Horrors, ohne jedoch in klischeehafte Nachahmung zu verfallen. Vielmehr gelingt Bell ein innovativer Ansatz, der die bewährten Elemente des Genres um eigenständige Akzente bereichert. Das Drehbuch balanciert gekonnt zwischen Mystery, Drama und Horror. Während der Fokus klar auf der düsteren Geschichte liegt, nimmt sich der Film Zeit für seine Charaktere.
Die Stärke seines Films liegt jedoch eindeutig in seiner Atmosphäre. Statt auf Jumpscares setzt Bell auf langsamen, aber unerbittlichen Spannungsaufbau. Das Dorf und seine Bewohner wirken zunächst vertraut, fast banal – bis sich Stück für Stück eine düstere Wahrheit offenbart.
Die schlägt sich auch in der erstklassigen Kameraarbeit nieder. Die herbstlichen Landschaften, die sich in ein düsteres Spiel aus Licht und Schatten verwandeln, erzeugen eine fast greifbare Beklemmung. Bell versteht es hier großartig, die unheimliche Aura der Natur mit der Geheimnislosigkeit der Menschen zu verbinden. Jeder Schauplatz – vom Kirchhof bis zum Festplatz – ist detailreich und stimmungsvoll gestaltet. Bell gelingt es, die Natur als Symbol für das Bedrohliche zu inszenieren, während sie gleichzeitig eine trügerische Schönheit bewahrt.
Auch akustisch brilliert der Film. Der Soundtrack, inspiriert von heidnischen Melodien, unterstreicht die düstere Stimmung perfekt. Besonders das Volkslied zu Beginn geht unter die Haut, wirkt wie eine leise Vorahnung der kommenden Schrecken und schafft eine subtile, fast hypnotische Einstimmung.
Die Darsteller sind durchweg exzellent. Tuppence Middleton, die Serienfans unter anderem als Riley Gunnarsdóttir aus „Sense8“ bekannt ist, überzeugt als Rebecca Holland, deren innere Zerrissenheit spürbar ist. Rebeccas Verzweiflung angesichts des Verlusts ihrer Tochter und die schleichende Isolation, die sie in der vermeintlich vertrauten Gemeinschaft erfährt, sind mitreißend gespielt. Das restliche Ensemble überzeugt ebenfalls durch nuanciertes Spiel, herauszuheben ist dabei einmal mehr Ralph Ineson, den die meisten als Todesser Amycus Carrow aus den „Harry Potter“-Filmen kennen. Ineson zeigt hier erneut seine spielerische Klasse und hinterlässt in seinen Szenen bleibenden Eindruck.
LORD OF MISRULE – HERR DES SCHRECKENS ist ein seltenes Juwel im modernen Horror. Der Film beweist, dass es keiner übertriebenen Effekte oder plakativ inszenierter Gewalt bedarf, um das Publikum tief zu berühren und nachhaltig zu verstören. Ein atmosphärisch dichtes Werk, das nicht nur als Genrebeitrag brilliert, sondern sich mühelos unter die besten Horrorfilme des Jahres einreiht – subtil, verstörend und meisterhaft inszeniert.
Florian Tritsch
Titel: LORD OF MISRULE - HERR DES SCHRECKENS
Land/Jahr: UK/Irland 2020
Label: PLAION PICTURES
FSK & Laufzeit: ab 12, ca. 100 Min.
Verkaufsstart: veröffentlicht