„Ich stotterte zunächst so sehr, dass man mich nicht verstehen konnte, was sich aber mit der Zeit legte. Dann litt ich immer wieder an Anfällen, was nach einiger Zeit immer weniger wurde und nun gar nicht mehr auftritt. Jetzt, nach gut einem Jahr der regelmäßigen Medikamenteneinnahme, habe ich hin und wieder Migräne, aber sonst geht es mir endlich halbwegs gut.
Bis heute habe ich keine Erinnerungen an mein früheres Leben, obwohl ich die wesentlichen Grundzüge der Allgemeinbildung beherrsche. Wenn du mich fragst, was „London“ ist, sage ich, dass es eine Stadt ist, und wenn du auf eine Katze zeigst, werde ich wissen, dass es eine Katze ist. Aber ob ich jemals in London war, oder ob ich eine Katze als Haustier hielt, entzieht sich meiner Kenntnis. Wenn ich etwas aus Englisch schreibe, benutze ich automatisch das kanadische Englisch, das dem britischen Englisch weitestgehend entspricht. Ich kann also ausschließen, dass ich aus den USA komme. Auch Frankreich kann ich ausschließen, da mein Französisch nicht fließend ist. Mein Akzent ist ein Hybrid aus dem Akzent meiner Pflegeeltern und dem, was ich im Fernseher aufgreife. Ich habe auch noch einige physiologischen Erinnerungen: ich kann normal laufen und – wenn auch nicht so gut – mit dem Fahrrad und dem Auto fahren. Ich habe auch herausgefunden, dass ich Gitarre spielen und relativ sicher singen kann. Es ist wahrscheinlich, dass ich mal ein Amateurmusiker war.
Der Sohn meiner Pflegeeltern, der ein Jahr vor meiner Findung bei einem Bootsunfall verstorben ist, war ein ehrgeiziger Musiker. Als ich sein Zimmer bezog, waren seine Sachen immer noch so, wie er sie hinterlassen hat. Seine Eltern haben es nicht übers Herz gebracht, die Sachen umzustellen. Er hatte einen Laptop, den nun ich benutze, nachdem mir gezeigt wurde, wie man mit Computern und dem Internet umgeht. Leider hatte ich keinerlei Erinnerungen, wie so etwas funktioniert.
Er dokumentierte sein Leben in Tagebüchern, besaß ein paar Gitarren und nahm mit einem Aufnahmeprogramm auf dem Laptop eigene Musik auf. Er hatte sehr viele Videos im Internet gebookmarkt und eine ganze Festplatte voller Musikdateien – hauptsächlich Power Metal. Er hatte sogar eine Band, mit der er versucht hat, ein Album aufzunehmen. Leider war er kein besonders begnadeter Musiker. Er scheiterte daran, qualitative Musik zu machen was ihn für einige Zeit schwer beschäftigt hat. Beim Durchsehen der Youtube-Videos habe ich mich bei den empfohlenen Videos weitergeklickt. Obwohl ich den Power Metal sehr mochte, begann ich, mich immer mehr für den Goth Metal zu interessieren. Ich entdeckte Sisters Of Mercy, Marilyn Manson, Depeche Mode, Nine Inch Nails, Zeromancer, The Love Crave, Rob Zombie, The 69 Eyes, End Of You, Entwined, KMFDM und so weiter, und jede dieser Entdeckungen brachte mich auf zehn weitere Bands, die ich mochte. Dabei möchte ich mal ganz unter uns erwähnen, dass Rammstein ohne Frage die wichtigste und beste Band überhaupt ist. Durch diese Bands hatte ich richtig Lust bekommen, etwas mit der Gitarre herumzuspielen. Zu dieser Zeit habe ich eine wirklich große Menge an neuen Eindrücken verarbeitet. Zudem habe ich nur wenige Stunden am Tag geschlafen, da mein Metabolismus komplett im Eimer war und sich mein Gehirn wie ein Schwamm angefühlt hat. Ich fand heraus, dass Power Metal viel zu schwierig gut zu spielen ist. Aber ich habe Sachen in meine Kopf gehört, die ich nach und nach umsetzen konnte. Diese waren ganz klar von der Goth Musik inspiriert ebenso wie von Punk, New Wave und Glam Rock. Auch die Ästhetik dieses Genres sprach mich an. Mir gefallen lange, dunkle Haare, ich mag kein warmes Wetter, ich habe viel Fantasie und ich mag Vampire, Katzen, Krähen und Totenköpfe. Deshalb begann ich mich mehr und mehr mit dem zu identifizieren, was manche Leute als „Goth“ bezeichnen.
Ich fühle manchmal, dass ich meinen Körper mit anderen Seelen teile. Ich fühle, wie unterschiedliche Persönlichkeiten in mir streiten, die unterschiedliche Neigungen und Absichten haben. Jede dieser unterschiedlichen Persönlichkeiten beschreibe ich als Hund des Himmels – und ihre Gesamtheit sind die „Dogs Of Heaven“. Den Künstlernamen Noah Veil habe ich mir zugelegt, um meine Privatsphäre zu wahren. Er ist an eine Zeile in den Tagebüchern des verstorbenen Sohnes meiner Pflegeeltern angelehnt, die seitenweise immer wiederholt wurde: „All my prayers have been to no avail“ (etwa „All meine Gebete waren nutzlos“). Aus „no avail“ wurde einfach „Noah Veil“. Zusammen sind wir also NOAH VEIL & THE DOGS OF HEAVEN. Mittlerweile gefällt mir der Gedanke, dass der Sohn meiner Adoptiveltern indirekt auch für mich gebetet hat. Vielleicht bin ich nun da, um das zu machen, was er nicht fertig bringen konnte. In dieser Hinsicht ist auch er einer der Hunde des Himmels. Natürlich ist aber auch Sylvain (Anm.: die andere Hälfte der Band) einer davon. Wir sind uns mental wirklich sehr ähnlich.
Der Bezug zur Sexualität auf „Forever Immortal“ ist bewusst etwas ausschweifend ausgefallen. Er gehört zur Musik genauso wie der religiöse Bezug, der sehr offensichtlich zu tragen kommt. In den Tagebüchern des verstorbenen Sohnes meiner Pflegeeltern habe ich das Bild einen sehr unsicheren und außenstehenden Jungen vermittelt bekommen. Er war sozial zurückhaltend und wurde oft gemobbt. Er hatte eine Sprachstörung und eine leichte Behinderung an einem Bein. Dennoch hatte er das gleiche Verlangen nach Zuneigung, Liebe und Sex wie jeder andere auch. Nur leider war er nicht in der Lage, etwas davon zu erfahren. In einer Zeit seiner Jugend hat er sich der Religion zugewandt. Durch sie hat für ihn alles einen Sinn bekommen. Doch er fragte sich oft, warum, wenn es einen Gott gibt, er ihn mit diesen Gelüsten und Wünschen versah, ihn dabei aber so unattraktiv und schüchtern erschaffen hat. Nach einiger Zeit fühlte er sich von der Religion hintergangen und erkannte die Bibel, und all deren Antworten und Versprechungen auf Erlösung, als große Lüge. Als ich das gelesen habe, zusammen mit den Erfahrungen, die ich von der Welt gemacht habe, stellte ich fest, dass Religion und Sexualität beide als Quellen grausamer Schmerzen und Frustrationen fungieren können. Beides wird oft viel zu ernst genommen, weshalb sie von den meisten Menschen viel zu hoch priorisiert werden. Es kann dazu führen, dass Menschen lügen, andere verletzen, ihr Leben zerstören und sogar töten. Ich behandle beide Themen sehr locker und mit einer gewissen Verachtung, was sich in meinen Texten widerspiegelt. In diese fließen ebenso viele Inspirationen der Tagebücher und der dort beschriebenen Personen mit ein.
Ich glaube, einen sehr gesunden Bezug zur Sexualität zu haben. Ich stelle Liebe mit Sex nicht gleich. Ich genieße es sehr, häufig Sex zu haben. Aber ich bin immer ehrlich in Bezug auf meine Absichten und respektvoll in Bezug auf die Bedürfnisse meiner Sexualpartner. Ich bin in keiner festen Beziehung. Ich bin sexuell dominant, was aber für mich im Schlafzimmer beginnt und auch endet. Ich habe kein Verlangen danach, sonst jemanden zu dominieren. Es hört sich vielleicht komisch an, aber ich bin sehr selbstbewusst, auch in Bezug auf meine Identität. Ich benutze Sex niemals, um zu manipulieren und zu bestimmen. Das ist meiner Ansicht nach eine der niedrigsten Arten der Perversion überhaupt.
Ich glaube, alle Götter sind echt. Sie sind auf die gleiche Art und Weise real wie Träume, Gedanken, Versprechungen und der Glauben an sich. Sie sind nur nicht materiell existent. Man kann sie weder sehen, noch in Händen halten, noch beweisen, dass es sie gibt. Angenommen ich habe einen Traum. Auch du hast Träume. Aber stell dir vor, ich bitte dich, mir zu beweisen, dass du einen Traum hattest. Das könntest du nicht. Ebenso wenig wie ich. Und genau so ist das mit den Göttern. Sie existieren nur in uns und wir akzeptieren sie. Sie können die physische Welt nicht direkt beeinflussen, aber sie können durch Taten in ihrem Namen in Erscheinung treten. Ich glaube nicht, dass Götter angebetet werden müssen, sondern dass sie als Beispiele und Metaphern für richtiges Handeln stehen. Sie sind Mediatoren für unser Verhältnis zum Universum, über das wir keine Kontrolle haben können. Ich habe Asatru für mich ausgewählt, das Schicksal der nordischen Menschen. Ich habe mich in die entsprechende Philosophie und Geschichten eingelesen und versuche, diese Konzepte auf mein Leben in der modernen Welt anzuwenden. Ich lehne es aber ab, das als ethnisch-exklusives Konzept für weiße Europäer anzuerkennen. Rassismus und Konzepte der erblich bedingten Überlegenheit sind schädlich für jede Gesellschaft. Meiner Ansicht nach spiegeln sie extreme Unsicherheit und Schwäche in Personen wider, für die ich nichts als Verachtung empfinde.
Wie ich bereits erwähnt habe, glaube ich, dass alle Götter real sind. Ich denke aber auch, dass die meisten von denen ziemliche Muschis sind, ebenso wie deren Gefolge. Ich denke zwar nicht, dass der christliche Gott sonderlich toll ist, aber ich weiß, dass es viele gute Menschen gibt, die niemandem was antun und die positiven Aspekte dieser Religion verfolgen. Die einzig gültige Art, Menschen zu bewerten, ist über ihre Taten. Nicht über ihren Glauben. Ein Glaube ist immateriell und nichts, worüber man diskutieren müsste. Das ist reine Zeitverschwendung.
Den Song 'iYou' hat mein Freund James Lovegrove (der New York Times Bestseller Autor) geschrieben, dessen Werk ich sehr bewundere. Ich habe mich online mit ihm angefreundet und er hat mir ein paar Soundtracks zukommen lassen, die er für sein e-Book „Gig“ geschrieben hat. Dazu hat er eine Drummaschine und einen Synthesizer verwendet. Einer von ihnen war 'iYou', und dieser hat mir direkt sehr gut gefallen. Ich habe unmittelbar eine eigen Version arrangiert, und ihn gefragt, ob ich diese benutzen dürfte. Er hatte kein Problem damit. Seine Absicht mit diesem Titel war es, einen kurzen Kommentar über die irrationale Besessenheit mancher Leute in Bezug auf Soziale Medien und ihre Smartphones zu geben. Aber ich habe etwas dunkleres in diesem Track erkannt, und „The Technarch's Manifesto“ hinzugefügt. Dies ist eine Rede, die von einer Art imaginären Kombination aus Steve Jobs und Adolf Hitler gehalten wird. James war sehr überrascht, als er den fertigen Titel gehört hat. Er hat diese Schicht des Songs nicht von selbst erkannt, aber nach kurzer Zeit gefiel es ihm sogar richtig gut. Er liebte meine Interpretation des Songs, den er eigentlich nur zum Spaß aufgenommen hat.
'Little Blue Pill' bezieht sich auf das allseits bekannte Medikament gegen erektile Dysfunktion. Es dient als Metapher für jemanden, der die Flamme von jemandem wieder entzünden kann, der schon so vieles gesehen und erlebt hat, dass ihn nichts mehr wirklich aus den Socken haut. Vielleicht sind die kleinen blauen Pillen aber auch symbolisch für alle möglichen Sachen, seien es materialistische, sexuelle oder auch Hobbies, Süchte, Spiritualität und Riten, die uns ein Leben lang befriedigen, und nicht nur kurzzeitig. So gesehen gibt Viagra nur eine Erektion für ein paar Stunden. Damit ist die Fähigkeit der Konsumenten Lust und Befriedigung zu verschaffen zeitlich begrenzt. Darum suchen sich die Leute Sachen, um die Leere in sich permanent zu füllen.
Leider sind Sylvain und ich momentan nur ein Duo, das durch 5000 km getrennt ist. Unsere Musik ist da, wo wir herkommen, nicht sonderlich beliebt. Weder in meiner Heimat Nova Scotia, noch in Florida, wo Sylvain lebt. Allgemein ist der Goth nicht sehr angesagt in Nordamerika. Anders ist das in Europa. Unsere Hoffnung und unser Traum ist es, eines Tages nach Europa zu kommen, hoffentlich Deutschland, um dort leben und musizieren zu können, wo man unseren Stil auch mag. Unsere Vision ist es, eine Band aus großartigen Sonderlingen und talentierten Musikern aufzustellen, deren Erscheinung allen Konventionen widerspricht. Diese Band soll hoffentlich auch viele Vertreter unterschiedlicher Sexualitäten vereinen. Wir sehen den Goth als Institution, in der jeder willkommen ist, der das Konventionelle Ablehnt. Die Meisten feiern die faszinierenden und dunklen Aspekte des Lebens, und sind emotional tolerant anderen gegenüber. Dort wird im Regelfall jeder unterstützt, der sonst gesellschaftliche Abneigung erfährt, auch in ihrer eigenen Familie. Sylvain und ich sehen das zumindest so. Wir haben beide unübliche Geschichten, und wir wollen uns mit Leuten umgeben, mit denen wir dieses Gefühl teilen können. Wir sehen Europa als einen sehr offenherzigen und kreativen Ort, der sich in dieser Hinsicht vom engstirnigen Nordamerika deutlich unterscheidet. Sylvain und ich würden nur zu gerne Teil einer solchen Gesellschaft sein, und unseren Beitrag zu ihrem Erhalt leisten. Dort werden unsere Ideale gelebt. Nicht nur deshalb hoffen wir, dass wir willkommen sind und akzeptiert werden.
Die Freiheit ist in unseren Köpfen und unseren Herzen. Es ist oft schwierig für manche Menschen, authentisch zu sein und ihre wahre Persönlichkeit offen auszuleben. Die Versuchung, sich anzupassen und konform zu sein, ob es musikalische Trends, politische Ideologien, religiöse Normen oder sonst was, kann überwältigend sein und die wahre Natur der Menschen begraben und ihre Geister zerstören. Wir sind alle verschieden, und wir sollten uns allen erlauben, anders zu sein. Wir sollten niemanden in das drängen, was wir als normal betrachten, oder was uns vertraut ist, und wovor wir uns nicht fürchten. Ich denke die glücklichsten und erfülltesten Leute schätzen nicht nur ihre Wahrhaftigkeit, sondern suchen immer, etwas Neues zu erfahren. Wir sollten alle – jeder für sich - versuchen, die beste Version von uns selbst zu sein. Das ist das Edelste, was man sein kann."